Montag, 17. Januar 2011

Lässt sich der Untergang der orientalischen Christen noch aufhalten?

Das Attentat auf eine koptische Kirche in der Neujahrsnacht hat erneut die Gefährdung christlicher Minderheiten in der muslimischen Welt aufgezeigt. Terror und Gewalt sind jedoch nicht die einzigen Faktoren, die dem scheinbar unaufhaltbaren Exodus der orientalischen Christen zugrunde liegen.

«Tragt den Orient in euren Herzen. Hier ist erneut ein Licht entsprungen, dessen Ausstrahlung ihr seid in einer von Materialismus, Sinnlichkeit und Berühmtheit verführten Welt. Was euch angeht, bewahrt eure orientalische Wahrhaftigkeit, lasst es nicht zu, dass man euren Willen, eure Freiheit und euren Glauben in diesem Orient verfälscht.» Diese Botschaft empfing die Damaszenerin Myrna Nazzur am Karsamstag 2004 von Christus selbst. Es ist die letzte von 35 Belehrungen, die der Frau bei Visionen und Ekstasen eingegeben wurden, in denen Christus und die Muttergottes ihr seit 1982 erschienen waren.

Hoffnung in Zeiten komplexer Bedrohung
Die Bekräftigung orientalisch-christlicher Identität, die hier höchster Stelle zugeschrieben wird, ist offensichtlich darauf ausgerichtet, den Christen im Nahen und Mittleren Osten in einer Zeit akuter Krise Selbstvertrauen und Zukunftshoffnung einzuflössen. Die Betroffenen erleben die Bedrohung als komplexes Problem, dessen Bewältigung die Christen nur teilweise selbst in der Hand haben, als Minderheit im doppelten Sinne: als christliche Minderheit in einer vom Islam geprägten Gesellschaft und als orientalische Minderheit in einem von der westlichen Kultur geprägten Christentum .

Die «orientalische Wahrhaftigkeit» wird laut Myrna Nazzurs Eingebung durch die «Verführungen» des Westens (Materialismus, Sex und Individualismus) bedroht. Hier drückt sich eine zutiefst konservative – und antiwestliche – Strömung aus, welche die orientalische Identität, sei es im Islam oder im Christentum, als traditionelle Frömmigkeit und überlieferte Moral begreift.

Instabilität als Hauptgefahr
Der Gang von 500 000 Christen ins Exil bewirkte die Halbierung ihrer Zahl im Irak. Im Unterschied zur ethnischen Säuberung Anatoliens von armenischen und assyrischen Christen im Ersten Weltkrieg ist die Gewalt gegen Minderheiten im heutigen Nahen Osten nicht die gezielte Politik eines Regimes, sondern die Konsequenz eines Zusammenbruchs des Staates und der öffentlichen Sicherheit.

Autoritäre Regime haben sich in der Regel als wirkungsvolle Schutzmächte religiöser Minderheiten erwiesen. Die christlich-muslimische Allianz im Zeichen des arabischen Nationalismus ist zu einem grossen Teil das Verdienst christlicher Intellektueller, die im 19. Jahrhundert die arabische Renaissance auf kulturellem und im 20. Jahrhundert auf politischem Gebiet vorantrieben.

In Palästina wurde diese Allianz durch die zionistischen Ansprüche auf das Land gestärkt, die sowohl Christen wie auch Muslime bedrohten. Doch Vertreibung und Flucht in den Kriegen von 1948 und 1967 sowie die über 40-jährige Besetzung Ostjerusalems, Cisjordaniens und Gazas bluteten die christlichen Gemeinschaften in weit höherem Ausmasse aus als den muslimischen Bevölkerungsteil.

Im Schatten des Islamismus
Der jüngste Anschlag auf eine Kirche in Alexandria zeigt auch, dass der koranische Schutz die Christen nicht vor islamistischen Terroristen bewahrt, die in der Gewalt gegen Andersgläubige eine propagandistische Wirkung suchen.

Wenn ein Eiferer in Amerika den Koran in die Flammen wirft oder ein europäischer Karikaturist den Propheten Mohammed zum Gespött macht, sind die Christen oft die ersten, welche die Reaktionen der Muslime zu spüren bekommen, obwohl sie als fromme Menschen solche Provokationen ebenso missbilligen wie ihre muslimischen Nachbarn.

Indem sie im Westen Schutz und Unterstützung suchten, haben christliche Gemeinschaften und Politiker oft selbst zum Verdacht beigetragen, sie verträten westliche Machtinteressen in der muslimischen Welt. Die Erfahrung der letzten zwei Jahrhunderte hat die orientalischen Christen aber gelehrt, dass westliche Mächte sie oft missbrauchten, um eigene Interessen zu fördern, und sie in Zeiten der Not wiederum hemmungslos ihren politischen Zielen opfern.Viele Christen im Mittleren Osten begegnen westlicher Politik heute deshalb mit Ablehnung und Furcht und suchen ihr Heil in einer lokalen christlichen Identität, wie sie etwa in der Christus-Ekstase der Myrna Nazzur empfohlen wird.
Gerade in der Volksreligiosität gibt es verbindende Elemente, die man für ein besseres Verhältnis zwischen Islam und Christentum auszunützen versucht. So hat Libanon das Fest von Mariä Verkündigung zum öffentlichen Feiertag gemacht mit der Begründung, die Mutter Jesu werde sowohl von Christen wie Muslimen verehrt. Unlängst wurde an einer Tagung über das muslimisch-christliche Verhältnis in Beirut auf Heiligengräber hingewiesen, zu denen seit je Muslime, Christen und Juden pilgerten, mit dem Vorschlag, solche Bräuche im Interesse des Zusammenlebens zwischen den Religionen aufzufrischen.

Ganze Reportage von Jürg Bischoff im Feulleton der Neuen Zürcher Zeitung

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen